"Der Rechtsstaat hat eine Doppelfunktion als Garant der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger auf der einen Seite und der Gewährleistung ihrer Sicherheit mittels des staatlichen Gewaltmonopols auf der anderen Seite.
Ein Rechtsstaatsverständnis, das einseitig von der Gewährleistung von Sicherheit und nicht zugleich von der Freiheitsidee beherrscht wird, würde den Rechtsstaat preisgeben.
Der Staat und seine Gesetzgebung haben eine angemessene Balance von Freiheit und Sicherheit herzustellen. Weder die Forderung nach einer besseren Klimaschutzpolitik noch die aktuellen Notmaßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung rechtfertigen die Aufgabe der Freiheitsrechte zugunsten eines Obrigkeits- und Überwachungsstaates. Der Staat muss und darf diese wichtigen Schutzgüter wie Klima sowie Gesundheit und Leben der Bevölkerung nur mit den Mitteln des Rechtsstaates sichern. Insofern stellt die Corona-Pandemie sicherlich eine Herausforderung und einen Test für die rechtsstaatliche Demokratie dar."

Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, in einem

 Interview mit Focus Online am 26. März 2020

Welche Grundrechte sind eigentlich eingeschränkt?

Die folgenden in Art. 1 bis 19 im Grundgesetz (GG) verbrieften Grundrechte waren oder sind derzeit

noch (teilweise) eingeschränkt. Die damit verbundenen Fragen sind höchst komplex und die Auflistung versteht sich eher beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit.


Art. 2 Abs. 1 GG: Freie Entfaltung der Persönlichkeit
Mit Quarantäneanordnungen, Vorgaben für Kontaktreduzierungen und anderen Maßnahmen greift der Staat in das Recht der Freiheit der Person ein, etwa wenn Großeltern oder Freunde nicht mehr besucht werden können. Auch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist eingeschränkt, wenn beispielsweise Geschäfte oder Betriebe geschlossen werden müssen.


Art. 4 Abs. 1 und 2 GG: Religionsfreiheit
Die bundesweiten Versammlungsverbote greifen massiv und beispiellos in die Religionsfreiheit von Christen, Juden, Muslimen und anderen Religionsgemeinschaften ein. Jeder Gottesdienst gilt als öffentliche Versammlung, die nicht mehr oder nur eingeschränkt stattfinden kann. Die Freiheit der Religionsausübung ist damit eingeschränkt. Allerdings haben die Religionsgemeinschaften diesen Einschnitten selbst zugestimmt. Christen waren besonders über die Oster- und Weihnachtsfeiertage betroffen, Muslime während des Fastenmonats Ramadan, Juden beim Pessachfest. In vielen Bundesländern gibt es inzwischen Lockerungen.


Art. 8 GG: Versammlungsfreiheit
Die Bundesländer haben unterschiedliche Versammlungsverbote erlassen und greifen damit in die Versammlungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger ein. Dieses Grundrecht, das eng mit der Meinungsfreiheit verbunden ist, ist eines der zentralen Elemente eines freiheitlich-demokratischen Staates. Am 15. April 2020 hat allerdings das Bundesverfassungsgericht an den Wert des Grundrechts erinnert und in einem Beschluss deutlich gemacht, dass pauschale Verbote von Demonstrationen nicht verfassungskonform sind. Unter Einhaltung besonderer Schutzmaßnahmen (Höchstzahl von Teilnehmenden, Abstandsgebot usw.) und nach Einzelfallprüfungen können seither Demonstrationen wieder stattfinden.


Art. 11 Abs. 1 und 2 GG: Recht der Freizügigkeit
Manche Bundesländer haben die Einreise von Personen aus anderen Bundesländern verboten und damit das Recht auf Freizügigkeit praktisch außer Kraft gesetzt. Besonders drastisch sind dabei Fälle, bei denen etwa ein Besitzer einer Zweitwohnung in einem anderen Bundesland nicht in sein Eigentum konnte. Berührt ist damit auch Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentumsgarantie), weil Bürgerinnen und Bürger nicht mehr frei über ihr Eigentum verfügen können. Auch die Schließung der europäischen Binnengrenzen ist in vielerlei Hinsicht eine Einschränkung der Reise- und Bewegungsfreiheit. Damit ist europäisches Recht berührt, aber beispielsweise auch das bundesdeutsche Grundrecht auf Asyl (Art. 16 GG), etwa wenn Asylsuchende an den Grenzen pauschal abgewiesen werden. Schrittweise wurden die Grenzschließungen wieder aufgehoben.


Art. 12, Abs. 1 GG: Berufsfreiheit
Dieser Grundgesetzartikel garantiert die freie Berufswahl und die freie Berufsausübung. Vor allem Letztere ist durch die Schließung von nicht systemrelevanten Einzelhandelsgeschäften massiv eingeschränkt worden. Auch hier gibt es inzwischen weitreichende Lockerungen, aber eben auch ein Fortdauern der Beschränkungen in zahlreichen Bereichen wie Gastronomie, Hotellerie oder im gesamten Bereich der Kultur (Theater, Oper, Konzerte, Kinos usw.).


Art. 13 Abs. 1 GG: Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung
Mit entsprechender Ermächtigung kann ein Amtsarzt unter Anwendung von Zwang die Wohnung einer infizierten Person betreten. Das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung ist damit beschränkt.

Darüber hinaus sind viele weitere elementare Rechte der Bürgerinnen und Bürger von den Corona-Maßnahmen betroffen. Vor allem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Datenschutz), das vom Bundesverfassungsgericht in den Achtzigerjahren entwickelt wurde, steht hier in der Diskussion, wenn es etwa um die Übermittlung von Mobilfunkdaten an das Robert-Koch-Institut oder um die Corona-Tracing-App geht.

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© Marion Henneberg